Bist du noch da, Seele?
Wo hältst du dich versteckt?
Nun, da dein Körper erschöpft ist,
stellen die Organe eines nach dem anderen den Kampf ein.
Du läßt die Waffen fallen und verhandelst ein Friedensabkommen mit der Natur.
Bist du noch da, Seele?
Bruderherz, du bist ein genialer Mensch,
hochsensibel, liebenswürdig, begnadet.
Dein Geist, der sich alles merken kann, versetzt mich immer wieder in Erstaunen und damit bin ich nicht alleine. Deine Hände verwandeln alles, was sie anfassen, in Sinn und Sinnlichkeit, und niemand hat dir je gezeigt, wie man das macht. Du bist ein Autodidakt, dem es jeder gleichtun möchte. Du öffnest den Deckel deines Flügels und spielst ohne Noten ungeniert eine Wagner-Ouvertüre aus dem Tannhäuser. Insgeheim hast du natürlich jahrelang geübt und die Noten akribisch in der Partitur und auf der Tastatur abgezählt. Ich weiß wirklich nicht, woher du eine solche Ausdauer hast.
Bist du noch da, Seele?
Ich habe mich dazu entschlossen, deinen Handabdruck in Bronze zu gießen, damit ich für immer und in meiner Zeit daran erinnert werde, wie sich ein Genie auf dieser Welt ausdrückt. Mit deinen Lippen könnte ich das Gleiche tun, aber da möchte ich dich lieber schweigen lassen, weil das unser innigstes Geheimnis bleibt.
Bist du noch da, Seele?
Bruderherz, Weggefährte, Künstler, Musiker, brillantes Gedächtnis und nahe am Genie, hast du es dem Vater wirklich gleich gemacht und gezeigt. Ich ziehe meinen schäbigen Hut vor dir und weine bitterlich. Auch ich wollte immer schon so genial sein, aber traue mich kaum und stelle jeden Versuch ein, weil ich deinen Neid und Zorn fürchte. In den dunkelsten Momenten und finstersten Orten unserer Bruderliebe sprachst du einmal von Cain und Abel. Ich fühlte mich zu Recht bedroht. Und doch habe ich keinen Zweifel an deiner Liebe.
Bist du noch da, Seele?
Das einzige, was ich zutiefst bedauere, mein liebevoller Bruder, ist, dass wir zusammen nicht mehr in die Landschaft der Sehnsucht, sei es nach Marokko oder weiter in die Sahara gefahren sind, weil die Fenster der Chemotherapie immer nur einen Spalt offen waren und deine größte Angst der Mangel an Schmerzmitteln und das Versagen des Immunsystems war. Jetzt bleiben uns nur noch die Gedanken und Träume, jeder für sich, du auf dem Sterbebett, ich auf meinem Stuhl, den ich ganz nah an dein Bett gerückt habe, damit ich deinen Atem rufen höre und deine Wärme spüre.
Bist du noch da, Seele?
Ich rücke nicht von deiner Seite, mein getreuer Freund. Erinnerst du dich? Auch schon früher waren wir unzertrennlich. Sie haben uns oft für Zwillinge gehalten. Mal war ich die treibende Kraft, dann wieder du und es schieden sich die Geister an der klitzekleinen Tatsache, dass ich 1 Jahr 1 Monat und 1 Tag älter war und dies sich nur darin zeigte, dass ich der mir aufgezwungenen Rolle des älteren Bruders mit der Erfüllung fremder Erwartungen gerecht werden wollte. Ich schäme mich. Denn wir haben es nicht immer leicht gehabt, ich ständig auf der Flucht in die Ferne, weit weg von zu Hause und du zu Hause weit weg von Erfüllung, Frieden und Glück. Wie hast du das nur ausgehalten? Die Landschaft unserer glorreichen Heimat hat uns genährt und wird uns verzehren.
Bist du noch da, Seele?
Zwei Vagabunden nennen wir uns. Wir lebten eine Zeit lang zusammen in Italien, später in Berlin. Als ich mich nach Hollywood aufmachte und dort herumtrieb, bin ich fast am ausgestreckten Arm meines Phantoms verhungert. Lächerlich und tragisch zugleich. Du kamst zweimal zu Besuch, out of your mind. Ich konnte es nur erahnen, was in dir vor sich ging. Ich hatte meine Produktionsfirma Vagabund Images nach unserem Schwur benannt. Ich produzierte in all den Jahren nur einen Film, der insgesamt 20 Jahre meines Lebens forderte. Ich bin aber sehr stolz auf das Ergebnis, weil es eine Hommage ans Überleben ist. Im Sommer habe ich noch den Streifen hier im Lokalkino gezeigt, weil ich wollte, dass besonders du ihn auf der großen Leinwand siehst. Es war großes Kino. Und alle unsere Freunde kamen in Scharen, aus alten wie aus neuen Zeiten. Aber jetzt sind wir beide in der Heimat angekommen und ich muss nicht mehr den Retter spielen, weil du mittlerweile vor genau einer Stunde aufgebrochen bist ins große unbekannte Universum.
Hans Pfleiderer, Klinikum Konstanz, Station Glärnisch, Zimmer 48, 23.11.2024, 18:20 Uhr
Wir werden Dich nie vergessen.